Liebe Gemeinde!
In Jerusalem gab es zu biblischer Zeit tatsächlich eine Art „Kurzentrum“. Dieses „Kurzentrum“ wurde bei Ausgrabungen Ende des 19. Jahrhunderts erstmals freigelegt. Es handelt sich um eine für damalige Verhältnisse sehr großzügige Kuranlage rund um einen Teich, der von einer unterirdischen Quelle gespeist wurde. Der Name des Teiches lautet „Betesda“ und heißt übersetzt so viel wie „Neustadt“, das war wohl der Name des Stadtteils, in dem sich die Kuranlage befand. Um den Teich waren im Kreis insgesamt 5 Säulenhallen gruppiert. Und es heißt beim Evangelisten Johannes, dass viele Kranke, Blinde, Lahme und Ausgezehrte dort die Heilkraft des Wassers nutzten. Nun gab es bei diesem Teich eine Besonderheit. Auch davon berichtet der vierte Evangelist. Hören wir einmal hinein in die Worte des Predigttextes, aufgezeichnet bei Johannes im 5. Kapitel:
„Danach war ein Fest der Juden, und Jesus zog hinauf nach Jerusalem. Es ist aber in Jerusalem beim Schaftor ein Teich, der heißt auf Hebräisch Betesda. Dort sind fünf Hallen; in denen lagen viele Kranke, Blinde, Lahme, Ausgezehrte. Es war aber dort ein Mensch, der lag achtunddreißig Jahre krank. Als Jesus den liegen sah und vernahm, dass er schon so lange gelegen hatte, spricht er zu ihm: Willst du gesund werden? Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt; wenn ich aber hinkomme, so steigt ein anderer vor mir hinein. Jesus spricht zu ihm: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin! Und sogleich wurde der Mensch gesund und nahm sein Bett und ging hin. Es war aber an dem Tag Sabbat. Da sprachen die Juden zu dem, der gesund geworden war: Es ist heute Sabbat; du darfst dein Bett nicht tragen. Er antwortete ihnen: Der mich gesund gemacht hat, sprach zu mir: Nimm dein Bett und geh hin! Da fragten sie ihn: Wer ist der Mensch, der zu dir gesagt hat: Nimm dein Bett und geh hin? Der aber gesund geworden war, wusste nicht, wer es war; denn Jesus war entwichen, da so viel Volk an dem Ort war.“
Liebe Gemeinde! Ich finde diese Heilungsgeschichte sehr interessant. Ausgangspunkt der Geschichte ist ein besonderes Phänomen, das sich wohl in regelmäßigen Abständen in dieser Kuranlage in Jerusalem abspielte: Von Zeit zu Zeit bewegte sich die ansonsten ruhige und glatte Wasseroberfläche. In diesem Moment, das wussten alle Heilsuchenden, in diesem Moment war die Heilkraft des Wassers am größten. Man interpretierte das so, dass in diesen Momenten ein Engel unsichtbar im Teich badete und sich dadurch das Wasser bewegte. Solange nun dieser Engel badete, ging etwas von der himmlischen Heilkraft des Engels auf das Wasser über. Und nur dann konnten die Kranken von ihren Leiden geheilt werden. So war also der Jerusalemer Kurbetrieb rund um den Teich Betesda immer von einer gespannten Erwartung geprägt: Wann würde sich das Wasser wieder bewegen? Und dann hieß es: schnell sein und schnell ins Wasser steigen.
Das ist schon eine sehr leistungsorientierte Vorstellung von Heil und Heilwerdung, finden Sie nicht: Wer schnell ist, wer schnell reagiert und die Nase vorn hat, der bekommt Heil geschenkt. Da ist Leistung und Tempo gefragt. Und wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Ich finde, der Teich Betesda mit seinem badenden Engel, der würde auch gut in unsere moderne, leistungsoreientierte und temporeiche Gesellschaft passen.
Kein Wunder, dass damals in Jerusalem einige Kranke durch das Gesundheits-Leistungs-Sieb gefallen sind. So zum Beispiel ein Mann, der schon seit 38 Jahren krank war und seit 38 Jahren vergeblich auf die Heilkraft des Wassers im Teich Betesda gehofft hatte. Immer war er zu spät gekommen, 38 Jahre lang. Aber es ist Hoffnung in Sicht. Jesus besucht auf einer seiner Jerusalem-Reisen die Kuranlage. Und dabei fällt ihm genau dieser arme Mann auf. Jesus geht auf den Mann zu.
Im Folgenden kommt es zu einem Gespräch zwischen Jesus und dem kranken Mann, das es in sich hat: Jesus fragt den Mann „Willst du gesund werden?“ – Bitteschön, was ist das für eine Frage. Da wartet ein Mann seit 38 Jahren vergeblich auf Hilfe durch das heilende Wasser, und Jesus stellt ihm eine solche Frage. Was für eine dumme Frage, könnte man meinen: „Willst du gesund werden?“ Na klar, wer will nicht gesund werden? - Oder ist die Frage von Jesus doch nicht so dumm ...?
Gut, wir wissen nicht viel über den bemitleidenswerten kranken Mann. Aber bei mir hat das Schicksal des Mannes schon Assoziationen geweckt an typische Fälle, wie ich sie auch immer wieder einmal in meinem Beruf erlebe: Ich denke da an den Typ des ewigen Verlierers, an die ewigen Opfer, die sich ewig lamentierend voller Weltschmerz mit zielsicherer Genauigkeit immer wieder selbst in die Opferrolle und Verliererrolle hineinmanövrieren. Menschen sind das, bei denen ich mich schon gefragt habe, ob sie denn wirklich wollen, dass sich etwas zum Besseren wendet. Ja, es gibt sie, die ewigen Opfer, die Bruchpiloten, die einfach immer die A.-Karte ziehen, um es einmal ganz drastisch auszudrücken. Und irgendwann beschleicht einen das Gefühl, dass sie die besagte Verliererkarte bewusst unbewusst selbst wählen. Wie schon gesagt, ich weiß nicht, ob diese Charakteristik auf den Kranken in der Bibel zutrifft. Aber es wäre eine Erklärung, warum Jesus dem Mann eine solche zumutende Frage stellt: „Willst du überhaupt gesund werden?“
Und was antwortet der Mann auf die Frage von Jesus? Er sagt: „Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt.“ Fällt Ihnen etwas auf? Der kranke Mann weicht der Frage von Jesus aus. Auf die Frage könnte man ja einfach mit „Ja“ antworten: „Ja, natürlich will ich gesund werden.“ Oder man könnte wegen mir auch „Nein.“ sagen Aber der Kranke klagt stattdessen über fehlende Hilfe von außen. Keiner hilft ihm, die Welt ist so schlecht und alle sind sie gegen mich, und immer bin ich der Dumme, der zu spät kommt. - Also doch ein ewiger Verlierer? ....
Jesus lässt aber nicht locker. Er sagt zu dem Mann: „Steh auf, nimm dein Bett und geh hin.“ Deutlicher geht es ja nun wirklich nicht. Jesus sagt: „Nimm dein Schicksal endlich selbst in die Hand. Ruh dich nicht auf deinem Bett auf. Ruhe dich nicht auf deinen 38 Jahren Leid aus. Lamentiere nicht, sondern tu etwas. Und: Tue es selbst. Warte nicht darauf, dass der Himmel dir einen Träger schickt, der dich zum Teich transportiert und dich dann am besten noch, per Rundum-Heilungs-Service“, ins Wasser gleiten lässt. Nein, so einfach ist das mit dem Heil-Werden nicht. Der Glaube an Gott ist nicht der bequeme Weg. Glauben heißt auch, kämpfen, heißt Zähne zusammenbeißen, heißt anstrengen. Und der erste Schritt ist, aufzustehen und sein Bett zu nehmen und loszulaufen.
Und dann passiert in der Geschichte auch das Wunder, - übrigens ganz ohne Wasser aus dem Teich Betesda: „Und sogleich wurde der Mensch gesund und nahm sein Bett und ging hin.“ So heißt es im Johannesevangelium. Die Worte von Jesus haben scheinbar genau den Nerv des Mannes getroffen: Keine falschen Ausreden, kein falsches Selbstmitleid. Stattdessen: Glaube und Vertrauen. Jesus ist da. Und mit ihm zusammen kannst du es. Du schaffst etwas, was du dich vorher nie getraut hättest.
Freilich verursacht das Handeln des geheilten Mannes in der biblischen Geschichte gleich wieder Ärger mit den anderen Leuten. Denn dummerweise geschieht die ganze Heilung wieder einmal an einem Sabbat. Und am Sabbat ist ja jede Art von Arbeit verboten. Der Mann, der mit seinem Bett unter dem Arm herumläuft, verstößt gegen die Sabbatgesetze, die nur eine bestimmte Anzahl von Schritten erlaubt. Aber das ist egal: Gesundheit, Heilwerden, auf das Wort von Jesus hören, das ist wichtiger, als die sture Befolgung von Gesetzen um jeden Preis.
Von dem berühmten chinesischen Philosophen Konfuzius stammt wohl folgende Weisheit: „Um an die Quelle zu kommen, muss man gegen den Strom schwimmen.“ Das ist wahr. Immer im breiten Strom mitschwimmen, sich treiben lassen, das tun, was alle machen, das kaufen, was alle kaufen, das bringt in der Regel weder Glück noch Heil. Wer zur Quelle des Heils vorstoßen will, der muss wirklich oft gegen den Strom schwimmen. Auch gegen den Strom mancher Killer-Phrasen: „Das kannst du doch nicht machen.“ - „Kein Mensch verhält sich so wie du.“ ... Der kranke Mann in der biblischen Geschichte schwimmt gegen den Strom, indem er am Sabbat herumläuft und so das große Wunder zeigt, das Jesus an ihm vollbracht hat.
Es ist der ganz andere Weg, den Jesus mit dem kranken Mann beschreitet. Aber dieser Weg ist erstaunlich erfolgreich. Dazu fallen mir zum Abschluss meiner Predigt noch zwei Dinge ein:
1. Das eine ist, dass Jesus mit seinem Vorgehen viele so genannte alternative Heilmethoden bestätigt. Heilmethoden sind das, gegen die in letzter Zeit nicht nur von Seiten der Schulmedizin wieder verstärkt polemisiert wird. Das Wesen der alternativen Heilmethoden besteht ja im Wesentlichen darin, dem Patienten nicht die Arbeit des Gesundwerdens abzunehmen oder ihm einfach die Schmerzen zu betäuben. Die alternativen Heilmethoden setzen einen wichtigen Impuls, geben einen Anstoß, der die Selbstheilungskräfte des Körpers in Gang setzt. Die große Kunst besteht darin, genau den richtigen Impuls zu setzen. Denn jeder Mensch tickt anders und braucht etwas anderes. Ich glaube, dass Jesus genau das in wunderbarer Weise beherrscht hat. Er hat die Menschen schnell durchschaut. Und darum konnte er die richtigen Worte finden. Und diese Worte haben gesessen, haben Impulse gesetzt und einen großartigen Heilungsprozess in Gang gesetzt.
2. Und damit bin ich bei dem Zweiten, was ich abschließend sagen wollte: Ich musste beim Nachdenken über die biblische Geschichte immer an den Satz von Martin Luther aus dem Kleinen Katechismus denken: „Wasser alleine tut’s freilich nicht, sondern das Wort Gottes, das mit und bei dem Wasser ist.“ Manch einer von Ihnen hat diesen Satz im Konfirmandenunterricht zum Thema Taufe auswendig lernen müssen. Diesen Satz auswendig zu wissen, ist ganz bestimmt kein Schaden. In der Geschichte wird der kranke Mann auch nicht vom Wasser geheilt, sondern von den Worten Jesu. Das macht mir im Blick auf Kurorte und Heilquellen grundsätzlich deutlich: So wertvoll unsere Heilquellen für die Gesundheit der Menschen ganz zweifellos sind, so wichtig und wertvoll es ist, Heilwasser zu trinken, - „Wasser alleine tut’s freilich nicht.“ Keine Trink-Kur, kein Mineralbad, kein Wassertreten sollte ohne begleitende Maßnahmen auskommen. Maßnahmen, die den Menschen, ihre Bedürfnisse, ihre inneren Blockaden und Probleme in den Blick nehmen.
Als Pfarrer wünsche ich jedem Kranken und Erholungssuchenden diese Begegnung mit Jesus Christus, wie in der Geschichte. Wie schon gesagt: Der Weg des Glaubens ist kein leichter Weg, weil er an Schuld und Sünde, am persönlichen Versagen und den eigenen Begrenzungen nicht vorbeigeht. Aber nur so kann Heilung gelingen. Alles andere ist Herumkurieren an Symptomen, und da ist es schade um die Zeit, um das Geld und um die Kräfte der Helfer, die den Hilfesuchenden doch keinen Erfolg bringen.
„Willst du gesund werden? Dann steh auf, nimm dein Bett und geh.“ Diese biblischen Sätze könnten, neben ihrer religiösen Bedeutung, richtig verstanden, auch zum Leitmotiv werden, für alle ganzheitlichen medizinischen Anwendungen, ob mit oder ohne Heilwasser. Die Worte von Jesus zeigen aber auch: Du brauchst Vertrauen: Vertrauen in deine eigenen Kräfte und in die Hilfe Gottes. Dann wirst du das Heil finden.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
